1893 – das «Geburtsjahr» des Schweizer Tilsiters

Bis ins 19. Jahrhundert hinein wurde im Thurgau und in den umliegenden Gebieten viel Getreide angebaut. Die neuen Eisenbahnlinien durch ganz Europa brachten jedoch einen ruinösen Preiszerfall, weil das wesentlich billigere ukrainische Getreide schnell und in grossen Mengen importiert werden konnte. Darum stellten viele Bauern auf die Milchwirtschaft um. Da aber mit den damaligen technischen Möglichkeiten die Milch nur sehr beschränkt haltbar war, suchte man nach geeigneten Verarbeitungsformen, welche den Nährwert des weissen Saftes auch längerfristig bewahrten. Dazu gehörten die Herstellung von Joghurt, Butter und Käse.

Die Käseherstellung gewann also an Bedeutung. 1822 wurde in Pfyn die erste Emmentaler-Käserei im Thurgau gegründet, auf dem Holzhof erfolgte die Gründung 1869. Über 50 Emmentaler-Käsereien gab es im Thurgau 1890 vor Einführung des Tilsiters. Das Verhältnis zwischen Ackerbaufläche und Milchwirtschaftsland im Thurgau betrug 1852 noch 3:2. 1890 hatte sich dieses Verhältnis bereits umgekehrt.

Geburtsstunde und Namensherkunft des Schweizer Tilsiters

Der Tilsiter verdankt seinen Namen der ostpreussischen Stadt Tilsit. 1893 kehrten Schweizer aus Tilsit, dem heutigen Sowetsk, in die Schweiz zurück und haben den in Tilsit kennengelernten Käse verfeinert. Und so stellten die Thurgauer Otto Wartmann auf dem Holzhof, Gemeinde Amlikon-Bissegg TG, und Hans Wegmüller (mehr Informationen zu ihm gibt es am Ende des Beitrages) in Herrenhof, Gemeinde Langrickenbach TG, den ersten Tilsiter in der Schweiz her. 1893 gilt also als die Geburtsstunde des Schweizer Tilsiters.

In den Jahren darauf engagierten sie sich für die hohe, einheitliche Qualität des Schweizer Tilsiters. Schon ab dem 18. Jahrhundert wanderten Schweizer Bauern, Melker und Käser in verschiedene Länder aus, so auch in die Gegend von Tilsit. Als Gewerbetreibende oder als Knechte und Mägde brachten sie ihr Wissen und Können mit.

Der Tilsiter entwickelt sich zum «Schweizer Volkskäse»

Der Tilsiter, ein halbharter Käse, ergänzte die bestehenden Käsesorten. Gegenüber dem normalerweise exportierten Emmentaler ist er weniger lang haltbar und darum vor allem für den heimischen Konsum geeignet – also ein echter Schweizer Volkskäse.

Wir haben ein paar historische Dokumente zusammengestellt, die einen Einblick in das Leben von damals geben:

Biografie Hans Wegmüller, der Praktiker

1867
kommt Hans Wegmüller auf die Welt.

1888
Circa 1888 absolviert er eine Käserlehre in Raperswilen TG. Sein Bruder betreibt die Käserei Fischbach bei Raperswilen. Ein weiterer Bruder lernt ebenfalls das Käserhandwerk und besucht die Molkereischule Rütti in Zollikofen BE. Nach der Rekrutenschule arbeitet Hans Wegmüller als Lohnkäser in Hochsavoyen, bevor er
nach Estland fährt. Dank seines Geschäftssinnes kann er dort ein grosses Vermögen machen. Das allerdings währt nicht lange: Während der Russischen Revolution verliert er seine grossen Ländereien und durch den Wertzerfall der deutschen Reichsmark auch sein ganzes Vermögen.

1889/1890
Circa 1889/90 besucht Hans Wegmüller die Molkereischule Rütti-Zollikofen BE.

1890
tritt er eine Reise nach Norddeutschland und unter anderem auch nach Ostpreussen/Tilsit an, mit dem Ziel, sich weiterzubilden.

1893
Mit viel Wissen im Gepäck kehrt er zurück und wird schliesslich 1893 Käser in Herrenhof TG. Dort produziert er erstmals den Tilsiter in der 1882 erbauten Sennhütte Herrenhof. Heute kaum mehr vorstellbar, Ende des 19. Jahrhunderts allerdings Alltag: Mit Handwagen und Zughund wird der Käse in sogenannten sechseckigen Tilsiter-Rollen zum rund drei Kilometer entfernten Bahnhof Altnau gebracht. 1893 ist auch das Jahr, in dem privat viel bei Hans Wegmüller passiert: So heiratet er Elise Herzog aus Büron bei Raperswilen und Sohn Hans wird geboren.

1894
absolviert Hans Wegmüller zusammen mit zwei weiteren Kandidaten die erste Käsemeisterprüfung in der Molkereischule Sornthal SG. Diese wurde damals vom Milchwirtschaftlichen Verein durchgeführt.

1895
An der Land- und Milchwirtschaftaustellung in Bern bietet Hans Wegmüller, zusammen mit Otto Wartmann, den Tilsiter-Käse an. Der stösst allerdings nicht auf Begeisterung und die Qualität überzeugt nicht. Warum? Dazu gibt es folgende Erklärung: Die Käse waren etwa gleich gross wie heute, wiesen aber mehr Löcher auf und waren aromatischer. Sie wurden nicht gepresst und nur mit Salz, nicht aber mit Schmiere behandelt.

1897
gab es in seinem Leben wieder einen privaten Höhepunkt: Tochter Elise wurde geborgen.

1898
zügelt Familie Wegmüller nach Mettendorf. Hans Wegmüller ist zu dieser Zeit Besitzer der Käserei Strohwilen (Nachbargemeinde des Holzhofes). Diese Käserei wird von Herrn Kilchenmann betrieben. Grossabnehmer sind die Firmen Otto Wartmann in Weinfelden und Althaus in Basel. Nebenher fabriziert er auch einen münsterartigen Weichkäse unter dem Namen «Arenenberger». Hans Wegmüller ist geschäftsüchtig: Nach allem, was man weiss, amtet er im Kanton Thurgau und vermutlich auch im Kanton St.Gallen als Käsereiinspektor und ist zusammen mit Otto Wartmann auch im Vorstand des Thurgauischen Milchinteressenverbandes tätig (gegründet 1887).

1906
wird er dann auch zum Präsidenten des Vereins Ehemaliger Molkereischüler Rütti-Zollikofen (VEM) gewählt. Acht Jahre später tritt er als Präsident des VEM Rütti zurück.

1914-1918
Während der Kriegsjahre erhält er von der Sektion Milch in Bern die Bestätigung, dass es sich bei seinem Produkt um eines der besten seiner Art handelt.

1918
Circa 1918 muss er dann die Käsereien Mettendorf und Strohwilen aufgeben. Er baut eine Molkerei in Frauenfeld auf, in welcher er weiterhin Arenenberger herstellt.

1920
Im Jahr 1920, Hans Wegmüller ist jetzt 53 Jahre alt, tritt er wieder dem Vorstand des VEM bei und engagiert sich stark für die Stellenvermittlung arbeitsloser Ehemaliger der Molkereischule Rütti-Zollikofen BE.

1921
Circa 1921 verkauft er die Molkerei an Herrn Gimmi und wechselt nach Weinfelden zu seiner Nichte, die dort einen Spezereiladen betreibt. In einem Waschherd stellt er weiterhin Käsli her, die er nach der Ausreifung mit seinem blauen Buick zu seinen Kunden bringt.

1923
Hans Wegmüller ist die treibende Kraft zur Gründung einer Sektion Ostschweiz des VEM. Ein Jahr später initiiert er an der Hauptversammlung des VEM die Gründung einer Untersektion Ostschweiz (1. Gründung 1926, 2. Gründung 1938).

1927
Im Jahr 1927 stirbt Hans Wegmüller an einem Herzschlag.

Im dritten Teil unserer Serie stellen wir Ihnen den spannenden Lebensweg von Otto Wartmann vor und machen einen Zeitsprung in die Gegenwart: Wir lassen den Otto Wartmann der 5. Generation zu Wort kommen und verraten, was Otti Wartmann Junior (6. Generation) Ururneffe unseres Tilsiter-Pioniers beruflich macht.